Die Sonne hatte mittlerweile den höchsten Punkt am Horizont erreicht und begann sich allmählich hinter ihm zu senken. Froh, endlich nicht mehr geblendet zu werden, fasste er den Entschluss eine kleine Rast einzulegen. Da ihm in der Ferne immer noch keine prunkvollen Stadtgemäuer ins Auge gestochen sind, machte er sich langsam Sorgen, dass seine Marschverpflegung etwas zu optimistisch geplant war. Eine Hand voll Äpfel und Möhren, zwei Flaschen gefüllt mit Quellwasser und ein Laib Brot mussten ihm allerdings für diese Reise reichen. An einem Baumstamm gelehnt, saß er auf dem Boden, genoss in aller Ruhe seinen Apfel und betrachtete den Himmel, bis ihm die Augen zufielen.

„Was treibst du hier mitten im Nirgendwo?“ Eine bedrohlich klingende Stimme weckte ihn.
Er riss die Augen auf und betrachtete den Mann, bevor er antwortete. Es war bereits dunkel, wodurch er nicht viel mehr als die Konturen seines langen Bartes erkennen konnte, der aus der Kapuze eines braunen Mantels hing. Der Mann reichte ihm die Hand und half ihm auf. „Ich bin auf dem Weg nach Birkenwall. Habe ’ne Lieferung, die zum Morgengrauen in der Stadt sein musst“, sagte er schließlich und deutete auf seine einfache Holzkutsche. „Wenn du willst, nehm ich dich ’n Stück mit. Zu Fuß würdest du gewiss noch ein paar Tage brauchen.“
„Wie von den Göttern gerufen!“, freute sich Hamild. „Das Angebot nehme ich doch liebend gerne an.“ Er schnappte sich seinen Rucksack und schmiss ihn auf die Ladefläche, während er neben dem Kutscher Platz nahm. „Danke.“
„Ich bin übrigens Derkk“, sagte er, bevor die Zügel in die Hand nahm. „Wenn du schlafen willst, kannst du auch gern nach hinten klettern. Wird noch ein paar Stunden dauern.“
Hamild schaute nach hinten und sah, dass dort lediglich zwei kleine Holzkisten standen, neben denen sein Rucksack lag. „Später vielleicht“, sagte er.
„Was will ein Typ wie du in der Stadt?“, wollte Derkk wissen.
„Ein Typ wie ich?“
„Naja, ich will ehrlich sein. Siehst nicht so aus als hättest du dort geschäftliches zu erledigen.“
Das Blut schoss in Hamilds Gesicht, was Derkk dank der Dunkelheit nicht sehen konnte. Es war ihm unangenehm, denn er fühlte sich ertappt. Als konnte der Kutscher riechen, dass Hamild ein untalentierter Nichtsnutz ist. „Ich… ja, also…“, fing er an zu stammeln. „Neue Leute kennenlernen, Abenteuer erleben, meine Berufung finden und solche Sachen halt“, improvisierte er.
„Hat dich also die Abenteuerlust gepackt. Spannend“, erwiderte der langbärtige Kutscher interessiert. „Hab schon viele Leute wie dich nach Birkenwall kutschiert. Die meisten von ihnen sitzen nun bettelnd in der Gosse und schauen den mageren Prostituierten unter den Rock. Du solltest dir das gut überlegen.“
„Danke für den Rat, aber bei mir ist das etwas anderes.“
Derkk lachte lauthals. „Ganz genau mein Bursche. DU bist etwas gaaanz Besonderes.“ Er verfiel in schillerndes Gelächter. „Lass mich wissen, wenn du die Prinzessin genagelt hast und zum König gekrönt wirst.“
„Wenn du nur wüsstest“, dachte Hamild. Doch, so ungern er es auch zugab, Derkks Zweifel nagten an seinem Stolz. Er wollte es ihm am liebsten beweisen, aber auch nicht riskieren, dass er ihn runterschmeißt.
„Nur Spaß, Mann. Mach dir einfach nicht zu große Hoffnungen. Birkenwall ist kein Zuckerschlecken.“ Dann legte er seine Hand auf Hamilds Schulter und sagte: „Wir kriegen gleich auch noch etwas Gesellschaft. Müssten jeden Moment da sein.“
Irritiert schaute sich Hamild um und hielt nach irgendeiner Art von Unterkunft Ausschau. Weit und breit war nichts zu sehen, was aber auch an der Dunkelheit liegen konnte. Dann sah er ein Feuer aufleuchten. Eine Fackel die aus dem Hohen Gras, ein paar Meter von ihnen entfernt, hervorlugte.
„Da ist mein Mann. Er müsste vorhin ’ne süße Maus aufgegabelt haben.” Er räusperte sich. „Also eine Hexe meine ich. Das Drecksvieh wird uns eine ordentliche Belohnung bescheren“, sagte er stolz und lachte.
„Solia?!“, dachte Hamild erschrocken. „Aber die wird sich doch nicht von solchen Halunken überwältigen lassen. Oh, bitte nicht…“ Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, während er sich einen Notfallplan überlegte.
Derkk spannte die Zügel und sein Pferd blieb langsam stehen. Er zog die Fackel raus, die neben der Sitzbank in einer Halterung saß, und signalisierte seinen Kumpanen, dass er seine Beute bringen soll. Gespannt starrte Hamild ins raschelnde Gras, konnte allerdings nicht viel erkennen. Während Derkk abstieg, um beim Aufladen zu helfen, konnte Hamild nur einen kurzen Blick erhaschen. Er wollte nicht zu neugierig wirken und den Eindruck erwecken, als würde er sich sorgen. Denn auch wenn sie ihm halfen, konnte er nur erahnen was sie mit ihm anstellen, wenn einer von denen skeptisch würde. Nach einem lauten Poltern spürte er, wie sich das Gewicht des Wagens ein wenig verschob. Dann wurde es still.
„Was ist mit der Belohnung? Ich habe getan, was du mir aufgetragen hast”, sagte der andere Mann.
„Die gibt es, sobald wir sie abgeliefert haben. Du kommst mit und bleibst bei ihr. Passt auf, dass sie nicht abhaut.”
Dann wurde es wieder ruhig.
„Jetzt und hier? Was ist mit dem Typen da, Derkk“, hörte den unbekannten Gehilfen flüstern. Gefolgt von schmatzenden Geräuschen.
„Scheiße, sie werden sie doch jetzt nicht hier…“, dachte er und drehte sich um, um zu sehen was die beiden trieben. Ihm stockte der Atem. Ein dürrer Typ, mit kurzen Haaren, stützte sich mit seinen Ellenbogen auf dem Wagen ab. In Derrks Gesicht zeichnete sich ein Lächeln, als er an ihm heruntersah und sich voller Vorfreude vor ihm kniete. Neben seinem Gepäck lag nun etwas großes, das in einer grauen Decke eingeschlagen war, und an den äußeren Enden, sowie in der Mitte, mit einem Seil befestigt war. „Die Hexe!”, dachte er. Hamild drehte sich wieder um und blickte in die Ferne. „Egal wer sich darunter befindet, sie es nicht verdient wie Jagdgut behandelt zu werden”, dachte er und überlegte dabei, wie der Kutscher seine Pferde unter Kontrolle behielt. Er hat in seinem Leben noch nie auf einer Kutsche gesessen, geschweige denn die Zügel in der Hand gehabt. Nun lag es an ihm die Frau zu retten und einmal in seinem Leben einen sinnvollen Beitrag zu leisten.
Es polterte wieder. Hamild schaute nach hinten und sah dem kurzhaarigen Typen, der nun mit seinem Bauch auf dem Wagen lag, in die zusammengekniffenen Augen. Sein glattrasiertes, faltenfreies Gesicht zeugte von jungem Blut. Dann spürte er Derkks lüsternen Blick.
Ein breites Grinsen formte sich zwischen dem spermaverschmierten Bart des alten Kutschers. „Als nächstes bist du dran.“ Er lachte herzhaft.
Angst loderte in Hamilds Brust, bis ihm ein Funke Heldenmut durch den ganzen Körper fuhr. Ohne weiter zu überlegen, nahm er die Lederriemen in die Hand und schwang sie mit voller Kraft. Das Pferd wieherte, riss die vorderen Hufe ehrfürchtig in die Luft und sprintete ins Dunkel.